An einem der wenigen frühlingshaften Tage dieses Jahres ging ich erst am späten Vormittag laufen. Das Wetter war nahezu perfekt: Es gab nur wenige Wölkchen am Himmel, die Temperatur war angenehm im zweistelligen Bereich. Es war gerade warm genug, dass ich bei einer der seltenen, zarten Windböen nicht zu frieren begann, mich aber auch nicht sorgen musste, dass ich einen Hitzschlag bekomme.

Ich auf meiner Mainuferrunde in einem Fahrtspiel, bei dem ich unterschiedliche Tempo- und Erholungsphasen frei abwechsle. Ein Intervalllauf ohne Vorgaben an diesem scheinbar ersten Frühsommertag schien mir genau das richtige zu sein. Spaziergänger genossen das angenehme Wetter und flanierten den asphaltierten Mainuferweg auf und ab. Zwischen Hohlbeinsteg und Eisernem Steg, vorbei am Maincafé, war es voll genug, dass ich im Zick-Zack laufen musste um zwischen den Spaziergängern, anderen LäuferInnen und JoggerInnen auszuweichen.

Ich hatte die Brücke über den Main, die den Abzweig nach Hause markiert, bereits im Blick. Auf Höhe des Yachtklub war ich gerade in einer der Tempophasen und konzentrierte mich darauf, eine möglichst effiziente Lauftechnik einzuhalten, meine Atmung zu kontrollieren, den Spaziergängern und anderen Sportlern auszuweichen und die Unebenheiten im Asphalt Im Blick zu behalten, um dabei nicht weg zu knicken.

Das Kind am Wegesrand

Ein kleiner, blonder Junge mit Brille – er mag so vielleicht vier oder fünf Jahre alt gewesen sein – saß allein am Rand des Weges und zog sich seine Schuhe an. Mit seiner türkis-blauen Brille, seiner blauen Windjacke und der ausgewaschenen, hellblauen Jeans wirkte er ein bisschen, wie ein Schlumpf – lediglich die weiße Schlafmütze fehlte. Neben ihm lag einer dieser neumodischen, silbrig-glänzenden Kinderroller (Affiliate-Link) auf dem Boden.

Er war verhältnismäßig lang mit seinen Schnürsenkeln beschäftigt. Es war wohl noch nicht so lange her, dass er das gelernt hatte. Ihm fehlte darin offensichtlich noch etwas Übung. Als er fertig war – ich konnte nicht richtig erkennen, ob er es nicht doch einfach aufgegeben hat – riss er den Lenker seines Rollers hoch und spurtete hastig los. Bereits im Laufen stieg er auf den Roller und trat zwei oder drei mal kräftig an. Offensichtlich hatte er es eilig.

Obwohl der blonde Junge es versuchte, war er nicht wirklich schnell. Auf seinem Roller war er ganz schön unsicher, das hatte ich schon bei seinen ersten paar Schritten gesehen. Ich war mitten in einer Tempophase meines Laufs und hatte ihn nach wenigen Metern beinahe eingeholt. Plötzlich kamen ein paar Bodenwellen auf dem Gehweg und es passierte, was passieren musste: An einer der Bodenwellen im Gehweg blieb der kleine Junge mit seinem Roller hängen und stürzte drüber.

Er stürzt direkt vor meinen Augen

Mein Abstand zu ihm war gerade noch groß genug, dass ich ihm Ausweichen konnte ohne ihm auf die Hände oder Füße zu treten. Das sah übel aus, was der Junge dort veranstaltet hatte: Er hatte es geschafft, mit seinem Roller einen viertel Überschlag zu machen und bäuchlings auf den asphaltierten Weg zu fallen. Der stürzende und sich überschlagende Roller schlug nur knapp am Rücken und Hals vorbei neben dem blonden Jungen ein.

Ich ging davon aus, dass seine Eltern – oder mit wem auch immer er unterwegs war – in der Nähe wären. Deswegen maß ich dem Geplärr des Jungen zunächst keinerlei Bedeutung bei. Nachdem ich aber bestimmt dreißig Meter oder weiter gelaufen war, hörte ich ihn immer noch schreien. Das ging mir dann trotz der Musik aus meinen Kopfhören zu sehr ins Mark. Ich musste mich umdrehen und gucken, was genau mit dem blonden Jungen los ist.

Niemanden kümmert es

Ich brach die schnelle Laufphase ab, lief ein paar Meter weit aus und drehte mich um. Ich sah eine Gruppe Spaziergänger, die an dem schreienden und weinenden Jungen teilnahmslos vorbei gingen. Eine ältere, leicht füllige Dame auf ihrem ebenso ein wenig in die Jahre gekommenen Fahrrad schaffte es nur knapp an den Passanten und dem kleinen Jungen vorbei. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihr Missfallen darüber, hier ein Ausweichmanöver machen zu müssen. Aber auch sie führte ihren Weg unbeirrt fort.

Da niemand in meinem Blickfeld dem kleinen, blonden Jungen einen Funken Aufmerksamkeit zu schenken schien, lief ich die wenige Meter eilig zu ihm zurück. Ich schaute mich um. Scheinbar war niemand in der Nähe, der sich für den kleinen blonden Jungen mit der Brille verantwortlich fühlte. Er hockte auf dem Boden und weinte. Ich beugte mich zu ihm herunter und fragte ihn, wo es denn weh täte. Er zeigte auf seinen Bauch: Da!

In dieser Situation konnte ich wohl nicht sehr viel mehr als Antwort von ihm erwarten. Ich half ihm sich aufzustellen und fragte, ob er denn gut Luft bekäme? Er nickte. Ich bat ihn, mir doch mal seinen Bauch zu zeigen. Er zierte sich ein wenig, aber ich erklärte ihm: Ich will nur gucken, ob noch alles dran ist und ob du irgendwo blutest. Das hat ihn wohl überzeugt. Etwas unbeholfen versuchte er, den Reißverschluss seiner blauen Jacke aufzuziehen, also half ich ihm dabei. Er griff sein T-Shirt und zog es hoch.

Irgend jemand muss doch helfen

So langsam schien er sich zu beruhigen, denn er hörte auf zu weinen und schluchzte nur noch leise vor sich hin. Ich guckte mir den Oberkörper an, konnte aber keine äußeren Verletzungen sehen. Ich tastete ihn vorsichtig von der Brust bis zum Bauchnabel hinab ab und fragte, ob es hier weh täte? Er schüttelte den Kopf, lediglich in der Gegend um die Milz hatte er wohl ein wenig Schmerzen.

Ich fragte ihn, was denn genau passiert sei? Nicht, weil ich es nicht gesehen hätte, sondern weil mir vielleicht auch ein Detail beim Sturz entgangen sein könnte. Vielleicht würde er sich ja gar nicht mehr genau erinnern und stand unter Schock? Er erzählte mir, dass er mit dem Roller gestürzt sei, er hat dabei die Lenkerstange in den Bauch bekommen und deutete dabei auf die Stelle, die ihm beim Abtasten weh tat.

Schier endloses Warten

Wo sind denn deine Eltern? fragte ich ihn. Er zeigte in die Richtung, in die er ursprünglich wollte und antwortete Da lang!. Ich drehte mich um und schaute – dort war jedoch niemand zu sehen. Sicher?, wollte ich wissen. Mir schien, als wäre er sich selbst gar nicht mehr so sicher. Ich hab sie eben noch gesehen, jetzt sind sie weg! antwortete er dennoch ziemlich selbstbewusst.

Soll ich mit dir warten, bis sie kommen? Er nickte ein wenig schüchtern, also wartete ich mit ihm auf die Eltern. Während wir da in der Sonne standen – also er stand und tätschelte zurückhaltend den Lenker seines auf dem Boden liegenden Rollers und ich saß auf eben diesem Boden – fragte ich ihn Wie heisst du eigentlich?Paul, antwortete er, und du?.

Schweigend vergingen die Minuten. Ich saß auf dem kühlenden Asphalt des Gehweges und genoss ein paar Sonnenstrahlen. Tut es noch weh?, versuchte ich das Schweigen zu brechen. Geht so, antwortete er. Passt das nächste mal besser auf und fährst vorsichtiger, ne? sagte ich. Ja, antwortete er.

Aus dem Nichts taucht jemand auf

Er versuchte sich die Jacke wieder zu zu ziehen, aber bekam es nicht richtig hin. Ich ließ ihn ein paar mal probieren bevor ich aufstand und ihm meine Hilfe anbot. Gerade als ich mich herunter beugte um ihm den Reißverschluss der Jacke hoch zu ziehen, tauchte neben mir ein dunkelhaariger Mann auf.

Alles ok? fragte der Mann mit dem Vollbart. Ja, soweit alles in Ordnung. Er ist zwar gestürzt, aber ist nichts ernstes. antwortete ich. Geht es dir gut? wollte der Mann von dem Jungen wissen. Er war etwa Anfang / Mitte vierzig und hatte keine Frisur. Seine Haare waren zu lang, um kurz zu sein aber zu kurz, um lang zu sein. Auf seinem Kopf sah es aus, als würde regelmäßig die Haarbürste den Kampf verlieren. Die dunkle Lederjacke, die er trug, schien mir für das Wetter ziemlich unangemessen und machte zusammen mit der olivgrünen Leinenhose einen ziemlich merkwürdigen Gesamteindruck.

Der Junge antwortete dem Mann ziemlich redselig. Er wiederholte die ganz Geschichte. Er sagte zu dem Jungen: Ja, da ist der Lenker nicht richtig eingestellt, da musst mal gucken ob der nicht etwas niedriger besser ist. Der dunkelhaarige Mann gab dem Jungen den Roller in die Hand. Er drehte sich in die Richtung aus der er kam und ging langsam los. Der Junge folgte ihm. Im Vorbeigehen sagte der dunkelhaarige Mann: Vielen Dank, schönes Wochenende. Erst jetzt habe ich verstanden, dass er wohl der Vater des kleinen, blonden Jungen ist.

Bildnachweis: Blaulicht von Feuerwehr Brandoberndorf auf flickr CC BY-SA 2.0

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